Hard Candy
Hard Candy oder die Schizophrenie der Schönheit
von Stephan Köhler
Geneigte Bildbetrachter stehen inmitten der immensen Bildproduktion heutiger Tage, können ihr Glück kaum fassen und suchen jetzt erst recht nach originärer, visueller Kost, um all derer Nuancen zu filtern. Liebhaber zeitgenössischer Malerei zählen zur Kerngruppe dieser Spezies, sie suchen sogar spezielle Orte wie Galerien und Museen auf, um die Bilder in Reinform, als Arrangement von Solitären, herausgelöst aus dem alltäglichen multimedialen Bilderrausch zu genießen.
Aufgrund der individuellen Erfahrung hat jeder Bildbetrachter seine eigenen Wahrnehmungsfilter entwickelt und lässt diese oft erst einmal in großer Geschwindigkeit durch das Dargebotene laufen. Bei den Arbeiten von Simone Haack gerät die schnelle Durchsicht ins Stocken, denn die Bilder stechen durch die betörende Prägnanz des unerklärlich Vertrautem hervor. Doch wie können Bilder Vertrauen erwecken?
Mimikry bezeichnet in der Zoologie evolutionär entwickelte Anpassungen, bei denen das Aussehen von Tieren etwas anderes vorgibt, als sie wirklich sind. Während in der Tierwelt z.B. harmlose Insekten zum Abschrecken markante Muster anderer besonders gefährlicher Tierarten imitieren, funktioniert die Mimikry in Haacks Werken entgegengesetzt. Im ersten Moment wird der Betrachter in Sicherheit gewogen, dann in Wohlgefallen gefesselt und schließlich sukzessiv mit Einsichten konfrontiert, die verstörend sein können. Erst wenn man sich voller Leichtigkeit in die Bildwelt Haacks begeben hat, entlarvt sich dort die Gefahr. Im Folgenden seien Einblicke in den Komplex von Haacks Œvre vorgeschlagen.
DIE VORDERE EBENE - Die zwingende Logik des allgemeinen Wohlbefindens -
„Die Gemeinsamkeit ist doch ganz einfach zu sehen: Es ist das Glatte. Das Glatte charakterisiert unsere Gegenwart“ *
Wenn wir davon ausgehen, dass Wohlbefinden in der Rezeption von Malerei einem Wohlgefallen am Bild entspricht, sind Haacks Bilderschöpfungen mit vielem ausgestattet, was zunächst Sicherheit gewährt, um dann fasziniertes Wohlgefallen auslösen zu können.
Ihre figürlich-landschaftlichen Motive zeichnen sich durch einen hohen Erkennungsgrad aus. Menschendarstellungen weisen deutliche Schemata auf: Die Figuren wirken mitteleuropäisch, haben volle Gesichter mit weit auseinanderstehenden Augen, kleiner Nase und kleinem Mund und eine äußerst glatte, nahezu schimmernde Haut. Die Mimik ist stets in Ruhe, scheinbar in sich gekehrt, teilweise fast tumb. Der Blick ist entweder weit abgewandt oder direkt auf den Betrachter gerichtet, als wenn man einen Mitwisser anschaut. Viele der Figuren sind im Kindes- oder Jugendalter. Haack domestiziert also die Typisierung eines Menschenbildes, so dass in der Summe ein hoher Wiedererkennungsfaktor entsteht. Zahlreiche Porträts bilden den Kern dieser Entwicklung. Zieht man in Betracht, dass es sich hierbei meist um rein fiktionale Porträts handelt, wird deutlich wie sehr Haack ihre Figuration durchdringt und besonders die Physionomie beherrscht. Als zweite elementare Figurenfamilie tauchen in Haacks Bildwelt Säugetiere auf. Diese unterliegen möglicherweise wegen ihrer Artenvielfalt, keiner prägnanten Typisierung, werden jedoch gerne als Begleiter oder abwartendes Gegenüber zum Betrachter dargestellt.
Führt Haack andere Bildräume außer changierenden, monochromen Hintergründen ein, so sind es immer Versatzstücke europäischer Landschaften, niemals architektonische Orte. Ob ursprünglich wild oder durch Menschenhand strukturiert, die Landschaft wird als naturgegebenes, quasi „heiles“ Umfeld nicht in Frage gestellt.
Ihre Farbgebung wurde in den letzten Jahren intensiver. Eine ausgefeilte Lasur- und Mischtechnik sorgt dafür, dass bereits kräftige Naturtöne durch partiell eingesetzte, fast synthetisch leuchtenden Farben noch übersteigert werden und bestimmte Partien im Bild eine aktivierende, unnatürliche Anmutung entwickeln.
Auch bei der Lichtführung schöpft Haack aus dem Vollen: sei es der virtuose Umgang mit mehreren Lichtquellen, mit Reflexions- und Streulichtern, mit seltener Unterbeleuchtung (Siehe: 9_„Vier“_170x120cm) oder gar durch inneres Leuchten, stets strahlen die Motive förmlich Vibrationen von Licht in den Ausstellungsraum und potenzieren die Anziehungskraft der Bilder.
Haacks malerischer Duktus ist weich, dicht verfugt und dient stets der Formbildung des Abzubildenden. Niemals tritt er in den Vordergrund oder wird gar zum expressiven Selbstzweck. Anders verhält es sich in den Graphitzeichnungen mittleren Formats. Hier schält sich aus einem prasselnden, im gestischen Fluss gesetzten Dickicht von unterschiedlich harten Parallel-Schraffungen die Figur heraus.
(Siehe „Mann ohne Eigenschaften“_20.._100x70 cm) Entscheidende Stellen in der Zeichnung werden dann durch Verdichtungen und Variationen der Schraffur noch präzisiert und vertieft. (Siehe oT. _2013 oder 2014??_80x60 cm). Dadurch weisen diese Blätter eine hohe grafische Qualität auf, welche stark an die Beschaffenheit von Kaltnadelradierungen erinnert und sich als zweiter Werkkomplex im Gesamtwerk Haacks klar abgrenzen lassen.
Diese aufgeführten Eigenschaften sind kompositorisch und formal brillant ausgeführt, so kann die Schönheit des Vertrauten locken. Auf diesen vordergründigen Blick könnte man von einem lebensbejahenden Realismus sprechen. Bei genauerer Betrachtung stellt hingegen man fest, hier werden so viele Charakteristika einer heilen Welt komprimiert, dass sich Verzerrungen auftun. Diese hohe Dichte an Positivem in der Bildsprache führt zu einer Art „Hyper-Vertrautheit“, welche scheinbar keine Alternativen mehr zu bieten braucht und jetzt gerne als Dauerzustand genossen werden darf. Das ist verdächtig, denn reiner Genuss entsteht nur in dem erfahrenden Wissen um sein Gegenteil. Dieses gegenteilige „Andere“ müssen wir nicht einmal außerhalb der Bildwelt Haacks suchen, schon beim zweiten Blick schleichen sich subversiv Irritationen in das zu Sehende ein: Das „Andere“ ist bereits präsent, das Unheimliche bricht sich Bahn.
DIE TIEFEREN LAGEN – Das perlende Einsickern des Wahnsinns -
„Die menschliche Wahrheit, die der Wahnsinn entdeckt, ist aber der unmittelbare
Widerspruch dessen, was die moralische und gesellschaftliche Wahrheit des
Menschen ist“ **
Zwei pubertierende Freundinnen, die eben noch zusammen den Wolkenhimmel betrachtet hatten legen jetzt zwischen den Dielen gemeinsam eine amorphe Öffnung frei. (Siehe 2 „Clouds“_120x150cm und 1_“Das Loch“_105x150cm_beide 2014). Vier Jugendliche treiben in einer bläulich kristallinen Flüssigkeit in einer Haltung, welche wenig Aufschluss über ihren Gesundheitszustand zulässt (Siehe 10 „Drifters“_190x140cm_2014). Zwei junge Damen in Cocktailkleidern schauen mit gesenkten Köpfen in die Dämmerung des Morgens (Siehe „Morgen“_110x150_2012). Hinter scheinbaren Nebensächlichkeiten, in der Absurdität der Situation und aus dem Blickwinkel des Betrachters eröffnen sich Abgründe. Beim Weiterdenken dieser Abnormitäten betreibt der Betrachter zwangsläufig Psychoanalyse mit sich selbst.
Warum scheinen so viele Figuren aus Haacks imaginärem Reich der gleichen Großfamilie zu entstammen: blonde bis dunkelblonde glatte Haare, helle, weit auseinanderstehende Augen? Hat sich hier der Inzest eingeschrieben? Dank Haacks Fähigkeiten erscheinen sie trotz ihrer Ähnlichkeit frappierend individuell. Das Gefühl, diese humanen Wesen zu kennen, ist beschleichend, sie sind wie die Menschen, die einen täglich umgeben, nur in obskurer Transformation auf die Leinwände gebannt. Als Betrachter wandelt man durch die fiktiven Gegenüber und fühlt sich durchschaut und erkannt. Man wird zwangsläufig zum Voyeur und spürt Bedrohung, da sich die Anzeichen mehren, dass hier etwas nicht stimmt.
Warum sind fast ausschließlich junge Menschen zu sehen? Sollte es da noch ein Zufall sein, dass die verbliebenden zwei erwachsenen Protagonisten, die seit 2011 in den Malereien vorkommen, nur noch als Kopf auftauchen, ihr Körper fehlt (Siehe: 20_o.T._100x80cm_2014 und „Headhunter“_90x140_2015)? Im Bereich der Zeichnungen finden sich dagegen mehr vollständige Erwachsene älteren Semesters. Hier scheint sich eine Reflexion zur Malerei abzuzeichnen, die im übertragenen Sinne als das kollektive Gedächtnis der jungen Generation aus den Malereien dient. Darf der Homo Ludens in den Gemälden nicht altern? Lauert ab einem bestimmten Alter das Verderben und von wem geht dieses aus? Forever young? Wir sehen junge Mädchen mit Waffen hantieren (Siehe: 19 „Trigger Happy“ (03)_80x70cm_2015), schnauzbärtige Köpfe waschen oder Wälder anstecken. Was also ist das Wesen einer Welt in der sich gerade die vermeintlich Unschuldigen „die Hände schmutzig“ machen?
Eine weitere Bedeutungsebene kommt den Tieren zu. In entspannter Erwartungshaltung blicken sie den Betrachter an (Siehe: „White Animal Park“_140x180_2015) oder sie sind Begleiter. Oft finden sich Ihre Attribute auch bei den Menschendarstellungen wieder, sei es in Form von Haltungen oder Maskeraden. Nach Hans Belting kann die Maske „ebenso die Seite der Gesellschaft (also Rolle und Person) gegen die fremdartige Natur wie auch die Seite der magisch aufgeladenen Natur gegen die Gesellschaft vertreten“.*** Zweites liegt bei den betreffenden Bildern näher, gipfelt sogar in außergewöhnlich direkten Fusionen. (Siehe „Haarmann“_60x50_20..??). Wenn sie auch keine direkte Gefahr ausstrahlen, so scheinen die animalischen Bedeutungsträger doch Boten und Wärter der subversiven Wirklichkeit zu sein in der das Unterbewusste das Ich dominiert.
Die Ambivalenzen ziehen sich auch durch die Rolle der Geschlechter. Weibliche Figuration, darunter eine große Zahl von Akten, dominiert die Motivik. Eine Welt ohne geschlechtsreife Männer ist für sich schon ein Faktum das Krisen auslösen kann. Wenn dann noch die Rollenmodelle der Frau zwischen potenziellem Opfer und potenzieller Täterin zu pendeln scheinen und der Grad dazwischen schmal wird, stößt uns Haacks Arbeit auf zwei Probleme: Was bedeutet in diesem Zusammenhang „potentiell“, also was sind die genauen Attribute, die wir weiblichen Opfer oder Tätern zuschreiben? Und wodurch zeichnet sich der Bereich eines „Dazwischen“ eigentlich aus? Während das Maskuline praktisch keine Rolle in den Bildern spielt, scheint sich das Feminine hier in einer Krise der Extrema zu stecken.
Schon diese wenigen Beispiele machen deutlich: Unseren gewohnten Denkmustern und Moralvorstellungen droht hier der Kollaps. Wir haben auf Harmonie vertraut, nun sind wir in Widersprüchen verstrickt und spüren das Fremde und mit ihm die Angst, wie sie langsam durch die Öffnungen unserer Imagination eindringen. Hier regiert mitnichten der Verstand mithilfe eines erbaulichen Realismus, sondern eher der wohldosierte Wahnsinn in Form eines toxische Surrealismus, der eng an unserer eigenen Lebenswelt gebunden ist.
DER DURCHBRUCH - Das kapitulierende Treiben im Widerspruch –
„Ihr Rettendes hat die Kunst an dem Akt, mit dem der Geist in ihr sich wegwirft“****
Francisco de Goya fing in seinen „pinturas negras“ ab 1820 die Herrschaft des surrealen Schreckens auf der ratio-resistenten Seite des Lebens ein. Es fällt auf, dass auch er sich dabei einer Typisierung der Physionomie bediente, als wenn der dunkle Wahn die Individualität seiner Opfer abschleifen würde. Während bei Goya Farbgebung und Auftrag das saturnische Thema offensichtlich ankündigen, und anschließend die Motivik dem „gesunden“ Grauen einen weiten Raum öffnet, verweigern sich Haacks Bilder dieser geschlossenen Symbolik. Sie halten uns im Widerspruch fest: Sie sind schön und abgründig. Sie wirken jung und erzählen dennoch vom Tod. Lassen wir uns auf die Bilder ein, treten verdrängte Ahnungen an die Oberfläche unseres Bewusstseins, Risiko Kunstbetrachtung.
Doch müssen wir keine finalen Konsequenzen fürchten und wir müssen keine moralischen Urteile fällen. Wir könnten loslassen und uns der Reversion der Bildcodes hingeben, uns im Widerspruch frei treiben lassen. Die erhöhte Aufmerksamkeit eines Ausnahmezustands ist die Folge oder die aktivierte Wahrnehmung des Rausches. In diesem Zustand werden wir dann vielleicht erkennen, dass die Abgründe das wirklich Vertraute sind. Denn trotz aller Fremdheit evozieren diese amoralischen Wesen unsere Empathie. Am Ende sind wir doch geneigt von Menschen auszugehen, Menschen wie Du und ich. In der Realität haben wir diese Wahlmöglichkeit nicht.
* Byung-Chul Han „Das Glatte charakterisiert unsere Gegenwart“ ZEIT Wissen Nr. 05/2014
**Michel Foucault „Wahnsinn und Gesellschaft“, S.547, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erste Auflage 1973, Frankfurt am Main 1969
*** Hans Belting „Faces. Eine Geschichte des Gesichts“, S 13, C.H.Beck oHG, München 2013
****Theodor W. Adorno „Ästhetische Theorie“, S.180, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Erste Auflage 2003, Frankfurt am Main 1970